Zwei Seiten einer Medaille

Jeder von uns macht es täglich, meistens automatisch und völlig unterbewusst. Geprägt durch unsere Erziehung, unsere Wertvorstellungen und unsere Sozialisierung hat unser Gehirn sich bestimmte Kategorisierungen und Vereinfachungen zugelegt, um die permanent auf uns einstürzenden Sinneseindrücke einigermaßen schnell verarbeiten zu können. Wir nehmen eine Alltagssituation war, stecken diese in eine Schublade, bilden uns blitzschnell eine subjektive Meinung, ohne zu hinterfragen, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Was war davor, welche Rahmenbedingungen haben dazu geführt, was haben wir wahrgenommen und was ist wirklich passiert? Dieser automatisierte Mechanismus unseres Gehirns ist sozusagen evolutionär notwendig, damit wir ohne größere Probleme durchs Leben schreiten können. Doch um aus der schnellen subjektiven Meinung eine ansatzweise objektive Meinung zu machen, müssten wir viele Situationen, in denen wir meist recht vorschnell Urteile fällen, wesentlich genauer ansehen. Aus diesem Hintergrund heraus wäre ein kritischer Blick auf die zweite Seite der Medaille ein nettes Gedankenexperiment.

 

Schein und Sein…

 

Sie haben ein Haus mit einer hübschen Außenanlage, zwei schicke Autos und drei Kinder. Die Frau sieht gut aus, die Kinder sind stets bestens gelaunt, der Vater hat einen ansehnlichen Job und ist ganz zufällig auch noch der perfekte Familienmensch. Kennt ihr diese Familie vielleicht auch? Könnten doch zufällig die netten Nachbarn von nebenan sein?

Alles, was wir auf den ersten Blick sehen, ist eine Bilderbuchfamilie, die scheinbar so ziemlich alles hat, was sich viele wünschen, und obendrein sind sie immer bestens gelaunt. Sie führen das Leben, von den so viele träumen.

Aber ist das wirklich so?

 

Beginnen wir nach dieser Schnellschuss-Meinungsbildung uns das Ganze ein wenig genauer, mit mehr Bedacht und Hausverstand zu betrachten:

 

Das die Familie “alles scheint perfekt” ein nettes Haus, zwei Autos und Kinder hat, ist weiterhin ein sachlicher Fakt. Auch das die Frau gut aussieht, kann schwer bestritten werden, obwohl es interessant wäre, wie die hübsche Dame um 5 Uhr in der Früh ungeschminkt in Pyjama aussieht.

 

Bei der Aussage, dass die Kinder stets gut gelaunt sind, sollte man zumindest das erste Mal hellhörig werden.

Kinder von 0 bis 24 Uhr bestens gelaunt? Hmm, da kann wohl was nicht stimmen. Jede Familie, die selbst Kinder hat, weiß mit Sicherheit, dass dies nicht der Fall ist und auch Menschen ohne eigene Kinder sollten mit ein bisschen Hausverstand erahnen, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit ist. Kinder sind, bis sie von der Gesellschaft genormt werden, im Normalfall die ehrlichsten Wesen auf unserem Planeten. Sie leben im Hier und Jetzt, äußern ihre Bedürfnisse sofort und ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Regeln. Kinder beschönigen nichts und äußern ihre Meinung ohne Vorwarnung direkt, konkret und ohne Rücksicht auf Verluste. Kinder sind ein wunderbares Geschenk, ich liebe meine Töchter über alles, aber ich weiß auch, das sie sind nicht jeden Tag und immer gut gelaunt sind ;-)

 

Papa, sehr guter Job und perfekter Familienmensch?

Sind meiner Meinung nach doch ziemlich viele und hohe Ansprüche, denen man gerecht werden müsste. Nehmen wir an, der Papa arbeitet im mittleren Management. Die Bezahlung für eine gute materielle Versorgung der Familie ist damit definitiv sichergestellt und in Gegenzug dafür eine Arbeitszeit von 8 bis 16 Uhr sehr unwahrscheinlich. Im Baby- und Kleinkindalter wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Verfügbarkeit für die Bedürfnisse der kleinen “Scheißer” diplomatisch formuliert ein wenig kompliziert sein. Ohne jetzt der böse Mensch mit erhobenem Zeigefinger sein zu wollen, behaupte ich, dass die Hauptlast der Familienagenden in dieser Konstellation die Frau trägt. Der hochstilisierte perfekte Familienmensch wird eher der Versorger sein, der im Optimalfall am Wochenende glänzen kann. Ich habe auch schon gehört, dass zwei oder drei Kinder leichter zu handhaben sind als eines und dann ist das alles eh nicht mehr ganz so schlimm. Oder? Leider muss man an dieser Stelle festhalten, dass diese Leute von der Entwicklung von Kindern anscheinend gar keine Ahnung haben und die Tatsache, das Kinder die ersten Jahre nicht gemeinsam, sondern nebeneinander spielen, zur Gänze ausblenden.

 

Unterm Strich können wir zusammenfassen, dass der offensichtliche Eindruck der Realität nur bedingt entspricht und die Anzahl der Menschen, die jetzt mit dieser Familienkonstellation tauschen wollen, ziemlich sicher wesentlich geringer ist.

 

Was ist das Fazit dieses Gedankenexperiments?

 

Jeder kann, soll und darf sein Familienleben organisieren wie er will, seine Werte selbst definieren, seine Wünsche äußern und leben, sein Leben so gestalten, wie er es für richtig hält. Aber wir alle sollten versuchen, nicht immer gleich vorschnell zu urteilen und uns eine Realität zusammenreimen, die in den meisten Fällen so nicht existiert. Schein und Sein, der gesellschaftliche Druck, perfekt und erfolgreich sein zu müssen, der Stress des Alltags und die vielen Botschaften der Medien, die ein Trugbild einer Traumwelt erschaffen, machen es leider recht schwierig, sich regelmäßig Zeit für einen zweiten Blick zu nehmen. Doch genau dieser zweite Blick ist notwendig, damit die Informationen offenbart werden, die uns eine objektivere Meinungsbildung ermöglichen.

 

Wenn wir nicht nur einen kleinen Teil, sondern das inhaltliche Ganze erfassen wollen, ist es unerlässlich, sich mit beiden Seiten einer Medaille zu beschäftigen. 

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Bettina (Mittwoch, 13 April 2022 20:34)

    Auch wenn es eigentlich um die zwei Seiten der Medaille geht, war für mich der mit Abstand schönste Satz, dass Kinder die ehrlichsten Wesen sind, die es gibt!!! Da liegt sooo viel heimeliges, wärmendes in dieser Aussage, und dafür danke ich dir von ganzem Herzen! Leider nehmen wir uns tatsächlich kaum die Zeit einer objektiven Meinungsbildung. Und unter Umständen verletzen wir mit Aussagen wie "dir geht's eh so gut, hast eh alles" unser Gegenüber, weil wir uns eben nicht die zweite Seite der Medaille angesehen haben. Danke für deinen Input, Menschen nicht zu vorschnell in eine Schublade zu stecken!