Mein Haus und nicht das der Bank, mein Auto und nicht das der Leasinggesellschaft, mein neues SUP-Board, meine neue Jacht, mein neuer Sportwagen, mein neues Gemälde, meins, meins, meins … Warum will der kultivierte Mensch - die Masse glaubt das zumindest zu sein - alles besitzen? Und war das immer schon so? Ist das Anhäufen eines größtmöglichen Besitzes vielleicht tief in unseren Genen verankert? Paradoxerweise wissen wir, auch wenn wir es gelernt haben, perfekt zu verdrängen, dass unser Leben zeitlich begrenzt ist und wir ins Jenseits NICHTS mitnehmen können. Berechtigte Fragen, die meiner Meinung nach eine genauere Betrachtung verdient haben.
Cicero war der Meinung, dass Privateigentum ursprünglich durch Okkupation entsteht und äußerte sich unter anderem mit folgender Aussage dazu: “Es gibt aber kein Privateigentum durch die Natur, sondern entweder durch die frühere Inbesitznahme (wie, bei denen, die einst in unbesetzte Gebiete kamen) oder durch Sieg (wie bei denen, die sich dessen im Krieg bemächtigten) oder durch Gesetz, Verabredung, Vertrag oder Los“. Obwohl diese Äußerung mittlerweile mehr als 2000 Jahre zurückliegt, ist die Kernaussage plausibel und gleichzeitig brisant, wie aktuell.
Dass Nomaden aus gut nachvollziehbaren und sinnvollen Gründen sehr wenig Besitz anhäufen, ist für uns alle einleuchtend. Doch für den sesshaften Menschen, der anscheinend noch immer über viel zu viel unnötigen Stauraum verfügt, scheint das Thema rund um Besitzanhäufung nicht mehr ganz so logisch zu sein. Unnötiger Konsum, ohne nur einen Moment über Sinn, Nutzen oder Bedarf nachgedacht zu haben, stehen in westlichen Gefilden nach wie vor an der Tagesordnung. Politik und Medien befeuern tatkräftig diese Konsumlust und entkräften jeden Gedanken an ein schlechtes Gewissen mit dem so dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung. Der oft gehörte Slogan “Gehts der Wirtschaft gut, gehts uns allen gut” hallt dabei noch immer durch unsere Köpfe. Über Nachhaltigkeit wird zwar viel und gerne geredet, trotzdem wird dieses Thema weiterhin lieber in die Zukunft verschoben. Nach wie vor herrscht das Motto - Wirtschaft zuerst - und diesen Ansatz mit den dazugehörigen Wahlversprechen höre ich leider jetzt schon über 20 Jahre.
Wie viel Besitz braucht der Mensch?
Eine schnelle, geschweige eine generelle Antwort, die für alle Menschen stimmig ist, wird es wohl kaum geben. Zu unterschiedlich sind unsere Bedürfnisse, Charaktere, Lebensumstände und -gewohnheiten. Daher liegt es auf der Hand, dass es für diese Frage unzählige Antworten gibt und keine davon wird nur richtig oder falsch sein. Es gibt diverse Lösungsansätze, wie wir mit Besitz umgehen sollen, uns von diesem wieder trennen können oder wie wir im besten Fall gar nie zu viel Besitz anhäufen.
Die 30-jährige Japanerin Marie Kondo, eine Meisterin unter Profiaufräumern, hat unter anderem Wohnungen entrümpelt, wo Menschen 60 Zahnbürsten oder 20.000 Wattestäbchen horteten. Der Ratschlag von Frau Kondo zum Thema unnötiger Besitz ist erstaunlich simpel und mit ein bisschen Hausverstand selbstverständlich: “Behalte nur jene Dinge, die dir wichtig sind und dir Freude bereiten. Der Rest kann entsorgt werden. Und zwar in dieser Reihenfolge: Kleider, Bücher, Papiere, Kleinzeug, Erinnerungsstücke. Bevor es in die Kiste kommt, sollte jedes Stück verabschiedet werden.” Der sogenannte “Rest”, welcher entsorgt werden kann, beträgt beim Großteil der Haushalte übrigens zwei Drittel …
Ein durchschnittlicher europäische Haushalt beherbergt rund 10.000 Objekte, in den USA sind es dreimal so viel - unser Leben scheint sprichwörtlich aus den Nähten zu platzen. Damit solche Unmengen an Objekten erst gar nicht entstehen, sollte man seine Einkaufsgewohnheiten von Zeit zu Zeit genauer unter die Lupe nehmen. Gezieltes Kaufen, entweder als Ersatz für etwas Kaputtes oder wenn der Kauf durch einen speziellen persönlichen Mehrwert gerechtfertigt erscheint, helfen, unnötiges Anhäufen von materiellem Besitz grundsätzlich zu verringern. Temporäres Auslagern in den Keller oder in paradoxe Mietlager ist wenig zielführend, da es sich hierbei lediglich um eine Verlagerung der Gegenstände handelt. Nach dem Motto aus den Augen aus dem Sinn sind die vielen ungebrauchten Utensilien zumindest außer Sichtweite, aber das Problem oder die Ursache damit nicht gelöst. Die vielen Objekte der diversen “Lustkäufe” liegen weiterhin ungenutzt an einem anderen Ort und warten meist vergeblich auf Wiederentdeckung oder -verwendung. Wenn im Laufe der Zeit auch dieser zusätzliche Stauraum aufgebraucht ist und der Mut, endlich etwas von seinem wertvollen Besitz loszulassen, landen die meisten dieser Dinge leider im Müll, da selten ein Mensch bereit ist, den ideellen Wert des meist ungenutzten Objektes beim Verkauf zu bezahlen.
Ein besseres Leben, im Idealfall geistige Erfüllung durch Verzicht zu erlangen, ist keine neue Idee. Bereits vor 2500 Jahren war der Wohlstand bestimmter Schichten so weit entwickelt, dass sich die Gesellschaft Moral und Askese leisten konnte. Unser Wohlstand und mit ihm die Möglichkeit, sich sehr vieles leisten zu können, führt zu dem Missstand, dass fast jeder zu viel besitzt. Zusätzlich neigen wir dazu, den Wert von Objekten, welche wir besitzen, zu überschätzen und verstärken damit unsere “Trennungunlust”.
Was können wir dagegen tun?
Jeder von uns - und ich bin hier keine Ausnahme - sollte sich viel öfter überlegen, wie viele Dinge wir wirklich brauchen. Wir sollten weniger dafür bewusster konsumieren, wir sollten nicht jedem Trend hinterherjagen, sondern kritisch hinterfragen und entscheiden, was wir schlussendlich kaufen.
Wir sollten uns von unnötigem Ballast, egal ob es sich um materielle Dinge, soziale Medien oder virtuelle Parallelrealitäten handelt, befreien. Und zu guter Letzt sollten wir den Aussagen “Besitz belastet”, oder “ Weniger ist mehr” die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen. Sie sind keine leeren Worthülsen, sondern ihr Inhalt ist wesentlich reichhaltiger, als man anfangs vermuten mag.
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Bettina (Samstag, 30 Oktober 2021 20:38)
Das Spannende ist ja, dass jedes Entrümpeln im physischen Sinn (also Räume), auch Befreiung im Geist mit sich bringt. Trotzdem ist es so schwer, und immer wieder sagt der innere Schweinehund zu dem letzten Sommer nicht mehr getragenen T-Shirt: "Nächstes Jahr zieh ich das bestimmt an!".
Und dann gibt's ja noch die Menschen, denen just ein paar Tage nach der Entrümpelung aber sowas von genau das Teil abgeht, das entrümpelt wurde �
Der Mensch ist ein spannendes Wesen �
Ronald (Montag, 01 November 2021 10:52)
Liebe Bettina,
ich stimme dir zu - der Mensch ist ein spannendes und sonderbares Wesen. Der innere Schweinehund scheint sehr oft übermächtig zu sein und dennoch lohnt es sich, den Kampf mit ihm immer wieder aufs Neue zu bestreiten. Je öfter wir uns dem Stellen, was uns Angst macht oder uns aus der Reserve lockt, desto kleiner wir der "übermächtige Schweinehund" werden.
Diesen Weg zu gehen ist selten leicht, aber er lohnt sich!
Bettina (Montag, 01 November 2021 17:32)
Lieber Ronald,
das erinnert mich an einen Spruch, den mir ein sehr lieber Freund gezeigt hat: tu immer genau das, wovor du am meisten Angst hast!